Jürgen Wulff: Diana, du hast 100 km Märsche gemacht, bei denen man 100 km in 24 Stunden läuft. Wie kommt man auf so eine Idee?
Diana Demmig: Also im Kern wollte ich mir etwas beweisen. Ich hatte irgendwann vorher schon eine Mehrtageswanderung gemacht, die ich nicht gut durchgehalten habe. Und ich dachte damals, die Mehrtageswanderung ist die Grenze dessen, was ich wandern kann. Mit den 100 km-Märschen wollte ich das nochmal neu beleuchten und die Frage klären, wie es heute ist und ob ich meine Grenze verschieben kann. Ich sage zwar immer, ich habe Null Ehrgeiz, was aber nicht stimmt. Zumindest habe ich einen ziemlichen Sturkopf. Ich hatte zwischenzeitlich auch abgenommen und wollte es probieren und wissen, ob ich das schaffe.
Jürgen Wulff: Wie war denn das erste Mal?
Diana Demmig: (lacht) Ich war nie so gut vorbereitet wie beim ersten Mal. Aber beim ersten Marsch 2017 in Hamburg musst ich nach nur zwei Dritteln der Strecke abbrechen.
Es war ein Problem im Kopf
Jürgen Wulff: Weil dein Körper nicht mehr mitgemacht hat?
Diana Demmig: Ich dachte, es sei mein Körper. Ich habe aber noch am gleichen Tag begriffen, dass es kein körperliches Problem war, sondern ein Problem im Kopf. Ich war überzeugt davon, dass ich es nicht weiter schaffe und das hat sich dann so bewahrheitet. Ich hatte mich zum Glück schon vorher auch für den nächsten Marsch in Berlin angemeldet. Der war vier Wochen später und da hat es funktioniert.
Jürgen Wulff: Hatte sich deine Einstellung geändert?
Diana Demmig: Die Einstellung hatte sich geändert und ich habe an bestimmten Schräubchen gedreht wie der Verpflegung. Außerdem habe ich darauf geachtet, dass ich gut für mich sorge. Dazu gehört, dass ich es mir anders eingeteilt habe und die Pausen anders gesetzt habe.
Man denkt bei jedem Marsch „Was für eine blöde Idee!“
Jürgen Wulff: Gibt es nicht trotzdem einen Zeitpunkt während des Marsches, wo man denkt, jetzt ist aber Schluss? Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, ich höre auf. Was für eine blöde Idee!
Diana Demmig: Der Moment, wo man denkt, dass das eine blöde Idee ist, kommt bei jedem dieser Märsche. Also nach jedem Marsch ist man fertig, egal wie gut man trainiert ist. Das macht jedem zu schaffen. Es gibt da auch extrem sportliche Menschen, die teilnehmen, und selbst für die ist es anstrengend. Die meisten Folgeanmeldungen für die nächste Veranstaltung dieser Art sind übrigens unmittelbar in der Regenerationsphase. Die Leute wollen es einfach noch einmal wissen.
Man sollte sich das Ganze in schaffbare Häppchen unterteilen
Jürgen Wulff: Was hilft dabei, um über diesen toten Punkt wegzukommen?
Diana Demmig: Also ich denke, es ist die gleiche Strategie wie bei anderen großen Projekten. Man sollte sich das Ganze in schaffbare Häppchen unterteilen. Ich habe für mich das große Ganze im Blick. Ich weiß, es geht um die hundert Kilometer, aber ich mache quasi vier Wanderungen à 25 km. Also ich gehe von Verpflegungspunkt zu Verpflegungspunkt. Dort gibt’s einen Reset und dann gehe ich nochmal los. Für mich wird es besonders intensiv ab dem letzten Viertel. Wenn ich schon 80 Kilometer hinter mir habe und noch 20 Kilometer vor mir, da ist so ein Punkt, da gönne ich mir immer eine besonders lange Pause, mache die Schuhe auf, massiere mir die Füße. Da schaue ich nicht mehr so sehr auf die Zeit, sondern es geht mir darum, mich in den Zustand zu versetzen, dass ich weitermachen kann. Das Unterteilen in Teilpakete ist sehr wichtig. Wenn ich Leuten erzähle, ich will 100 Kilometer gehen, findet das jeder total beeindruckend. Ja, aber es ist auch nichts anderes als viermal 25 km.
Wenn man grundsätzlich fit ist, kann man das schaffen
Jürgen Wulff: Du bist jetzt aber nicht die typische Sportlerin. Es ist wirklich eine Sache, die man schaffen kann, wenn grundsätzlich gesund ist. Der Rest ist Kopfsache.
Diana Demmig: Ja, wenn man grundsätzlich gesund ist, kann man das schaffen. Ich habe früher ja keine hohe Meinung von Sportlern gehabt, weil ich gedacht habe, wenn man gut trainiert, dann kann es ja jeder schaffen. Und dann noch vermischt mit der Arroganz, ich könnte das auch, wenn ich wollte. Aber ich will ja gar nicht. Aber bei diesen Wanderungen habe ich dann gelernt, es ist eben nicht nur, dass man körperlich trainiert ist. Es spielt sich noch etwas anderes ab. Und da ist die eigentliche Leistung. Es hilft natürlich, wenn man körperlich fit ist. Ich appelliere da an einen verantwortungsvollen Umgang mit sich selbst.
Ich habe viel über mich erfahren
Jürgen Wulff: Was hat sich für dich verändert dadurch, dass du diese Märsche gemacht hast?
Diana Demmig: Also die größte Veränderung in meinem Leben war, dass ich meinen Mann bei der Vorbereitung auf den ersten Mega-Marsch kennengelernt habe. Körperlich hat sich auf lange Sicht betrachtet gar nicht so viel verändert. Also ich habe immer noch Übergewicht (lacht), aber das hindert mich jetzt nicht. Ich mache manches etwas langsamer, so, wie es halt geht. Aber ich habe mehr Bewegung in meinen Alltag eingebaut. Ich gehe jetzt häufiger zu Fuß, wo ich früher den Bus genommen habe.
Außerdem habe viel über mich erfahren. Ich habe gelernt, was ich aushalten kann. Und es soll jetzt gar nicht so sehr nach Leidensfähigkeit klingen, aber ich habe gesehen, was ich kann. Ich habe das inzwischen ja 10-mal gemacht. Du hast nie eine Garantie, dass du es auch beim nächsten Mal schaffst und das sagt ja auch sehr viel über das Leben aus. Also ich musste immer auch mit dem möglichen Ausgang leben, dass ich nicht ans Ziel komme, dass ich aus irgendeinem Grund abbrechen muss. Und ich habe viel gelernt, auch in Unterhaltungen mit anderen Leuten, mit anderen Teilnehmern. Ich habe oft Menschen gesehen, die mit Freunden gestartet sind und die dann plötzlich allein waren, weil der andere nicht mehr wollte oder konnte. Das war schwer für sie, weil sie gar nicht darauf gefasst waren, dass sie das allein machen mussten. Für mich ist das anders. Ich habe zwar auch Freunde und Bekannte und ich habe auch echt gute Freunde dadurch kennengelernt. Aber wir gehen nie zusammen, weil wir ein unterschiedliches Tempo haben. Also so diese Akzeptanz, wir machen alle das Gleiche, aber jeder macht sein Ding. Das war eine ganz wichtige Sache, die ich für mich mitgenommen habe.
Situationen aushalten, auch wenn es unangenehm ist
Jürgen Wulff: Gehst du seitdem auch an die Herausforderungen in deinen Beruf anders heran?
Diana Demmig: Ja, ich kann es in folgende Analogie fassen. Das, was ich auf dem Weg schon erlebt habe, manifestiert sich in anderen Situationen durchaus. Situationen aushalten, auch wenn es unangenehm ist. Sich darüber klar werden, was will ich und dann auf dem Weg dahin auch Sachen annehmen, die dazugehören, auch wenn sie vielleicht nicht optimal sind oder man sie nicht beeinflussen kann. Auch bei den Märschen gibt es manchmal Etappen, die echt anstrengend sind und wo man sich fragt, wofür man das alles macht. Und wenn man es aushält, erhält man danach Jubel, Ruhm und Ehre, eine Urkunde und eine Medaille. Und als Führungskraft, wenn man das aushält, kann man dann doch Dinge wieder bewegen oder verändern, die man vorher vielleicht anders eingeschätzt hatte. Und gleichzeitig hat man dieses Recht aufzuhören. Wenn ich mich anderen Wanderern darüber unterhalte, dann sage ich immer, irgendwann nimmt der Schmerz nicht mehr zu. Dir tun dann zwar Körperstellen weh, aber es wird ab einem bestimmten Punkt nicht mehr schlimmer. Also die Schmerzkurve steigt nicht mehr an und dann muss man halt wirklich in sich gehen und überlegen, ist das was, womit ich jetzt noch eine Weile klarkomme? Dann kann man es durchziehen oder man sagt sich „Das war’s, ich höre auf.“ Es ist keine Schande zu sagen, „Nein unter diesen Umständen kann ich heute das nicht zu Ende bringen.“ Und das ist dieser Zweiklang, einerseits eine Freiheit zu haben, andererseits muss man sich dem stellen und Dinge aushalten. Das ist eine schöne Analogie auch für Führungskräfte.
1000 km: Ich wusste, dass es hart wird. Ich hatte aber keine Ahnung.
Jürgen Wulff: Dann hast du auch einen 1.000 km Marsch gemacht innerhalb von 20 Tagen.
Diana Demmig: Stimmt. Tausend Kilometer mit Begleitfahrzeug längs durch Deutschland von Grainau an der Zugspitze bis zum Kap Arkona auf Rügen. Da sich für eine geplante Veranstaltung nicht die notwendigen 50 Teilnehmer gemeldet hatten, hat sich ein harter Kern von schon angemeldeten Teilnehmern gefunden, der das selbst organisiert hat.
Jürgen Wulff: Und war das leichter zu bewältigen oder war es doch härter?
Diana Demmig: Ich wusste, dass das hart wird. Ich hatte aber keine Ahnung. (lacht) Ich war die ganze Zeit bei den 100 km Märschen mit sehr heilen Füßen gesegnet. Ich hatte nie Probleme mit Blasen. Also, es glaubt einem kein Mensch, dass man so etwas macht und dabei keine Blasen an den Füßen hat. Aber dann hat meine Haut bei 50 km plus 50 km plus 50 km ohne Pause doch schlapp gemacht und dann hatte ich genauso wie alle anderen auch erhebliche Probleme. Es war für mich härter, weil ich darauf überhaupt nicht vorbereitet war. Du musst dir das so vorstellen: Alle anderen Menschen haben schon ziemlich viele Blasen an ihren Füßen gehabt und wussten genau, was ihnen hilft und guttut. Und ich saß da und dachte, was mache ich denn jetzt? (lacht)
Man tut sich leichter, wenn man vorbereitet ist
Jürgen Wulff: Wie gut sollte man sich für diese Art Wanderungen vorbereiten? Es ist ja so etwas wie ein Projekt.
Diana Demmig: Man kann beide Projekte auch unvorbereitet machen. Man tut sich nur sehr viel leichter, wenn man sich vorbereitet. Man kann aber auch überplanen. Das ist das andere Extrem. Manchmal fragen mich 100 km-Anfänger Dinge, bei denen ich ihnen sage, dass sie es ausprobieren müssen. Weil es für mich funktioniert hat, heißt es nicht, dass es für sie auch passt. Aber ein wenig Planung und Überlegung hilft. Man kann ja mal eine Testwanderung machen und sich anschauen, wie man sich fühlt, wenn man total müde ist und wenn man nachts unterwegs ist. Das kann man alles vorher austesten, ohne sich in die echte Situation zu begeben.
Vorbereitung und Planung hilft auf jeden Fall bei 1 000 km. Zum einen lohnte sich die Planung für uns, weil wir so sicherstellen konnten, dass wir unsere Übernachtungsmöglichkeiten auch erreichen. Allein ist man sehr viel freier als in der Gruppe und mit jemandem, der im Auto mit dem Gepäck der Gruppe unterwegs ist. Es geht halt nicht, dass es sich so weit streut, dass der eine irgendwie noch in den Alpen ist und der andere schon in Mitteldeutschland. Deswegen ist man als Gruppe sehr viel mehr aufeinander angewiesen.